Therapie

Betroffener (42) – Dezember 2010

Ende November 1968 brachte meine Mutter einen gesunden Sohn zur Welt. Das war ich. Die ersten Jahre meines Lebens durfte ich eine wohlbehütete Kindheit verbringen.


In der ersten Klasse kam ich dann sozusagen nochmals auf die Welt. Ich konnte mich überhaupt nicht einordnen, war demzufolge Aussenseiter und nicht in der Lage, von der Wandtafel zu lesen. Also erzählte ich irgendetwas, das mir gerade einfiel. Die Klassenkameraden fandens lustig, die Lehrerin war hoffnunglos überfordert und stellte mich dauernd vor die Tür. Das Fass zum überlaufen brachte der Umstand, dass ich aus Versehen in der Pause auf die Mädchentoilette ging.


Der Schulpsychologe wurde eingeschaltet. Er behauptete, ich sei extrem frühreif und ich musste in die Psychotherapie und Rorschachtests machen. Mein Vater wehrte sich und bereitete diesem Unfug ein Ende. Ich wurde in ein anderes Schulhaus versetzt. Nach kurzer Zeit stellte meine neue Lehrerin fest, dass ich stärker kurzsichtig sein müsse, da ich Texte von der Wandtafel zwar lesen konnte, aber nur, wenn ich 40 cm davor stand. Danach bekam ich eine Brille mit -5 Dioptrien (was ziemlich stark ist) und konnte nun endlich sehen (und von der Wandtafel lesen).


Das Stottern begann irgendwann in dieser Zeit. Zudem konnte ich das „R“ und das „SCH“ nicht sagen. Die Logopädin sorgte zwar dafür, dass ich „R“ und „SCH“ sagen konnte, dem Stottern stand sie aber hilflos gegenüber. Sie gab mir immerhin Listen mit Wörtern mit, die ich am Morgen laut vorlesen sollte, was aber nicht wirklich viel brachte. Also begleitete mich mein Stottern die gesamte Primarschulzeit, im Gymnasium, und danach auch in der Berufslehre zum Augenoptiker, die ich gewählt hatte, weil ich nicht studieren wollte. Meine Eltern unternahmen zwar immer wieder Versuche, mich von meinem Stottern zu befreien, aber die Ärzte waren immer der Meinung, dass mir überhaupt nichts fehle. Und so passierte etwa 15 Jahre lang gar nichts. Ich stotterte mal mehr, mal weniger (wenn ich gerade mal eine Freundin hatte). Irgendwann war es dann so selbstverständlich, dass ich mich damit abfand.


Zwar hatte ich schon gehört, dass es spezielle Therapien gegen Stottern gab, aber irgendwie war immer alles zu teuer, zu weit weg und die Zeit war offenbar noch nicht reif. Ich ging lieber zu Naturheilärzten (die mir immer das Kaffetrinken verboten) und machte eine Maltherapie, die sehr nützlich war, meine Kindheit besser zu verstehen und eine Atemtherapie, die mir mehr innere Ruhe und Selbstsicherheit gab. Diese Therapien nützten zweifellos alle etwas, ich durfte viel über mich erfahren und lernte auch, mich selber zu verstehen und auch zu mögen. Jedoch blieb das Stotterproblem weiterhin ungelöst.


Schliesslich „motivierten“ mich meine damaligen Geschäftspartner dazu, eine solche Therapie zu machen. Ich war zu dieser Zeit nämlich Mitinhaber eines Optikergeschäftes. Es war eine „one man show“ d. h. ich arbeitete allein dort (später kam noch eine Lehrtochter dazu). Das Geschäft lief eher schlecht als recht, und meine Partner warfen mir vor, dass es auch mit meinem Sprechproblem zu tun habe.


Es war so etwas wie eine Trotzreaktion, dass ich mich bei diesem berüchtigten Institut in Amsterdam zu einer 10- tägigen Stottertherapie anmeldete. Vorher ging ich noch in die Ferien, und meine Partner durften mich im Geschäft vertreten. Ich war ca. 3 Wochen lang weg, für einen selbstständigen Geschäftsmann ist das Luxus. Der Kurs war sehr streng und militärisch und man braucht Nerven wie Drahtseile um dort teilzunehmen. Sie vermitteln eine sehr technische Atemtechnik und wenn man einen Fehler macht (sprich stottert) wird man ziemlich runtergemacht. Fast jeden Tag dachte jemand ans Aufhören, aber man hatte ja schon zum Voraus bezahlt und schliesslich wollte jeder den Kurs zu Ende führen.


Fairerweise muss ich sagen, dass mir dieser Kurs stotterfreie 1,5 Jahre beschert hat. Danach bekam ich ein leichtes Asthma und konnte die Technik nicht mehr anwenden. In der sog. Konzentrationsphase musste ich nämlich immer husten, weil man da seine Lungen komplett leeren muss.


Der Rückfall kam natürlich genau zu dem Zeitpunkt, als ich mich entschloss, meinen erfolglosen Optikerladen zu verlassen und wieder im Angestelltenverhältnis zu arbeiten. Meine Lebensumstände änderten sich schlagartig und ich kam mir anfangs hilflos vor. Nach einem erfolglosen Kurs in einem Institut in Reutlingen (D), trat ich sozusagen auf der Stelle. Mein Ziel, bis zu meinem 40. Lebensjahr nicht mehr zu stottern, löste sich in Luft auf.


Eines schönen Tages im darauffolgenden Jahr entdeckte ich beim googeln zufällig die Alfred Beyeler Sprachtherapie. Ich freute mich sehr, dass es so etwas auch in der Schweiz gibt (denn das war für mich neu) und rief Alfred an. Er war ziemlich gestresst und etwas kurz angebunden. Ich machte trotzdem einen Termin ab und lernte einen überaus herzlichen, lebenserfahrenen Menschen kennen, der sein Stottern mit seiner selbst entwickelten Therapie in den Griff bekommen hat. Ich war beeindruckt.


Dazu kam, dass für mich bisher bei Stottertherapien immer irgendeine Technik im Vordergrund stand. Bei Alfred durfte ich wieder das natürliche Sprechen lernen, mit Gestik und Emotionen und Augenkontakt. Mein Sprechen und mein gesamter Ausdruck verbesserten sich sehr. Nach einigen Sitzungen bei Alfred übernahm René Pulsinger. Er trieb mir noch einige schlechte Gewohnheiten aus und förderte mich weiter. Irgendwann fragte mich Alfred an, ob ich Trainer werden möchte. Ich fühlte mich sehr geehrt und sagte zu. Ich finde es sehr schön, dass ich schlussendlich nicht nur mein eigenes Stottern in den Griff bekommen habe, sondern auch unseren Schülern helfen darf, ihres zu besiegen.